Illuminatio -Ausflüge in eine bizarre Welt
Kapitel Null
Prelude
Um vier Uhr nachmittags betrat Doktor Albert Hoffmann sein Büro in Zürich. Von oben nach unten betrachtet – oder besser gesagt, visuell abgetastet – trug er nur eine dünne Ansammlung weißer Haare auf dem Kopf, die kaum ausreichten, um einen altersbedingten Leberfleck zu bedecken.
Sein Gesicht zeigte nicht weniger Anzeichen der "Erfahrung", wie seine knapp 30 Jahre jüngere, aber dennoch selbst in ihren Vierzigern weilenden, Frau ihn zu trösten pflegte.
Seine strahlend blauen Augen erinnerten an vergangene Zeiten, wirkten aber in diesem Körper aber nur wie ein Überbleibsel des attraktiven Junggesellen, der er einst gewesen war – als wäre der Rest seines Äußeren eine geschickt gearbeitete Maske eines alten Mannes, die nur die Augen des darunter liegenden jungen Mannes freilegte, damit er sich noch im Spiegel betrachten, aber nicht wieder erkennen konnte.
Dichte schwarze Haare rankten in beeindruckender Länge aus seinen Ohren und der Nase. Manch einer Witzelt darüber, dass seine Kopfhaare wohl... naja, Sie verstehen schon.
Der Herr Doktor zeigte sich davon weder beeindruckt, noch amüsiert.
Der Rest seines Körpers wurde von einem stilvollen Anzug bedeckt welcher ihm mit Sicherheit einst wie gegossen passte, nun aber ehr wirkt wie ein Kind, welches mit den Kleidern seines Vaters spielt, dar er in den letzten Jahren mit dem Alter, lange nach dem Kauf, viel abgenommen hat.
Über dem Anzug trug der Doktor einen weißen, rasch übergestreiften Kittel, wie ihn Doktoren nun mal tragen. Auf der Brusttasche krönte ein Tintenfleck der sich nicht mehr auswaschen lies.
Dies war ihm aber reichlich egal, dar er diesen Kittel sowieso schon nun mehr als drei Wochen am Stück trug und es ihm herzlichst egal war wie die wenigen Kollegen im Labor ihn wahrnahmen– ohnehin hielten sie ihn eh schon für einen altmodischen, vergesslichen Mann, der in den Ruhestand gehört.
Um sein Bild abzurunden stand sein Kragen auch noch auf einer Seite hoch. Etwas, was er von Zeit zu Zeit mit Absicht so trägt um das Tuscheln seiner Kollegen wie die Glut in einem Feuer zu seinem Vergnügen anzustacheln.
In seiner linken Hand hielt er eine kleine, unbeschriftete Glasampulle fest umklammert. Darin befanden sich zehn Milliliter einer farb-, und geruchslosen Flüssigkeit.
Mit einem ganz bewussten, leicht überdramatischen "Rums" knallt er das Fläschchen auf den einen Flecken seines Schreibtisches, welcher nicht mit Büchern, losem Papier oder anderen, merkwürdigen Gegenständen, die er über die Zeit gesammelt hat, bedeckt ist.
In der Mitte des Tisches balanciert eine weiße Porzellan Teekanne, die mit Pastellfarbenden Blumen Hand bemalt wurde, zusammen mit zwei Tassen mit dem gleichen Aussehen, auf dem undefinierbaren Haufen Büchern und Papier.
Der Doktor hebt vorsichtig die Teekanne an, um einen feuchten Kranz, welcher sich über gleich mehrere Bücher erstreckt, dort wo zuvor die Kanne stand, zu enthüllen.
Er schüttet zu tiefst auf sein Handeln konzentriert, aber dabei doch wackelig und unruhig, einen Schluck vor Hitze dampfenden Tee in eine der beiden Tassen, welche, dem Tee Rand am Boden der Tasse nach zu Urteilen, wohl zuvor schon einmal mit Tee gefüllt wurde, ohne danach gereinigt worden zu sein.
Mit einem ehr symbolischen, einstudierten kleinen Schüttel lässt er den letzten Tropfen lautlos in die Tasse fallen und stellt die Kanne wieder exakt dort ab, wo sie zuvor stand, um keine weiteren Flecken zu erzeugen und in der Hoffnung, dass sich der bereits entstandene Kranz bis zum nächsten mal dass er die Kanne anhebt, verschwunden ist.
Gezielt greift er mit seiner linken Hand nach der Ampulle, entfernt den Korken in einer Bewegung mit der rechten Hand und knallt diesen ebenso künstlich Brutal wie die Ampulle zuvor auf den Tisch. Das Geräusch ist dieses mal aber auf Grund dessen, dass der Korken nun mal aus Kork besteht, deutlich leiser und dumpfer.
Er kippt, ohne etwas zu verschütten den Inhalt des Fläschchens über den Rand der immer noch leicht schräg auf den Büchern stehenden Tasse, begleitet von dem Geräusch, welches die Flüssigkeit macht, während sie in der Ampulle mit jedem "Glugg" von Luft verdrängt wird.
Die nun leere Ampulle knallt er, wie zu erwarten, genau wie die volle und den Korken, mit einem "Rums" auf den Tisch.
Mit einer Hand greift er nun vorsichtig nach seiner sorgfältig präparierten Tasse, hebt diese bis auf etwa Nasenhöhe vor sich, schwenkt sie, als würde er gerade ein Glas Whiskey in der Hand halten, kneift für einen Augenblick, der, wenn man nicht drauf vorbereitet ist kaum Wahrnehmbar war für jemand außenstehenden, Augen und Po fest zusammen und kippt die ganze Tasse in einem Schluck runter, wobei er seinen Oberkörper so weit nach hinten wirft dass man fast meinen kann, die Geschichte mit der Alters-Maske wäre doch war, denn er sieht wahrlich nicht aus als könne man seinem Rücken so etwas zutrauen.
Er setzte sich wieder aufrecht hin, starrte kurz ins nichts, während er seine Gedanken sammelte, und knallte die Tasse, eben so, wie er es mit allem tat, auf den Tisch, ohne Gefühl für die Fragilität des Porzellans.
Vorsichtig griff er nach einem braunen, dünnen Notizbuch, welches schon aufgeschlagen mit allem anderen auf dem Tisch lag und ansonsten zwischen den anderen Büchern komplett untergegangen wäre.
Folgendes schrieb er an jenem Nachmittag in besagtem Buch:
Kapitel Eins
Der Fahrradtag, Notizen vom 19.04.1943
Nachdem ich die Dosis von genau zehn Milligramm Lysergsäurediethylamid, in einem Tee verdünnt, gegen vier Uhr am Nachmittag eingenommen hatte, verließ ich mein Büro, um mit dem Rad zur Bibliothek zu fahren.
Diese Dosis kam mir lächerlich klein vor und wirkte wie ein guter Einstieg in meine Experimentierreihe, sodass ich die Dosis von da an langsam steigern konnte.
Auf dem Weg begegnete ich einem Fachkollegen in den Gängen, der mir eine mir mittlerweile entfallende Frage stellte, welche ich aber schnell abwendete, da ich bereits die ersten Effekte spürte.
Zehn Minuten später fand ich mich, wie geplant, draußen, auf meinem Rad wieder. Bis hierhin habe ich nur wenige spürbare Effekte erlebt, doch auf dem Rad bemerkte ich schnell, dass ich scheinbar einige Zentimeter über dem Boden schwebte. Ich bemerkte, dass mein Blickwinkel deutlich gut fünf Zentimeter höher lag als normal. Das treten der Pedalen schien scheinbar nichts zu bringen, da die Reifen nun nicht mehr am Boden hafteten. Dennoch schien sich mein Rad vorwärts zu bewegen, wie ein Wagon einer Geisterbahn, welcher auf Schienen von einem Seil gezogen wird. Ich war vollen Bewusstseins und Herr meines Körpers. Mir kam der Gedanke, dass ich die höhe der Dosis wohl drastisch unterschätzt hatte.
In der Bibliothek angekommen, stellte ich sicher, dass ich mich nur in den hintersten Reihen des Ladens aufhielt. Ich konnte nur schwer einschätzen, wie mein Verhalten nach außen wirkte und wurde zunehmend paranoider, jemand könnte mich für einen Betrunkenen halten.
Dass die Wirkung nun ihr volles Potenzial entfaltete, wurde mir dadurch bewusst, dass mir die Bücher in den Regalen zunehmend gleichgültiger wurden. Ich vergaß praktisch den Grund, weshalb ich in erster Linie zur Bibliothek gefahren war. Eigentlich hatte ich gehofft, das Lesen von Büchern unter dem Einfluss von Lysergsäurediethylamid studieren zu können, stattdessen waren es sämtliche andere, scheinbar zufällige Details in meiner Umgebung, die nun meine Aufmerksamkeit erweckten. Das Licht, das von draußen durch die Fenster brach, die angerosteten Eisenscharniere an der, ansonsten aus Holz bestehenden, Schiebeleiter, die die Bibliothekare nutzen, um an höher gelegte Bücher zu kommen. All das kam mir auf einmal so unendlich bedeutend vor. Es war fast, als ragten einige Dinge buchstäblich aus dem Rest der Realität heraus und warfen einen Schatten auf alles andere. In diesem Moment habe ich jegliches Gefühl für Zeit verloren. Der einzige Grund, weshalb ich mit Sicherheit sagen kann, dass ich um Viertel vor sieben noch in der Bibliothek war ist der, dass ich zwischendurch in meiner Ekstase von einem befreundeten Ehepaar, welches gerade dabei war die Bibliothek zu verlassen, durch ein "Tschüss" gestört wurde. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich schon zuvor ein Gespräch mit ihnen geführt, aufgrund der Tonlage und der generellen Art und Weise, wie sie sich verabschiedeten, bis zu diesem Zeitpunkt habe ich aber sämtliche andere Menschen, die ebenfalls anwesend waren, ausgeblendet. In diesem kurzen Moment der Nüchternheit schaffte ich noch gerade eben den Herren nach der Zeit zu fragen. Er antwortete mit: "Es ist Viertel vor Sieben. Mach nicht mehr so lange, Alfi!". Gesehen habe ich das Ehepaar dennoch nicht wirklich, höchstens im Augenwinkel.
Als ich das dingeln der Glocke, welche von der Tür beim öffnen und schließen geläutet wird, hörte, welches indizierte, dass sie nun den Laden verlassen hatten, viel eine große Anspannung von meinen Schultern. Ich konnte mich schnell wieder in meinen vorherigen Geisteszustand zurück versetzen. Diesmal war es aber nur ein Objekt, welches aus meiner Realität herausstach. Ein Buch. Wunderschön leuchtend, als hätte es jemand mit einem Stift hervorheben wollen. Um sicher zu gehen, dass ich es finde, lag es am Kopfende eines Tisches. Der davorstehende Stuhl stand bereits weit zurück, als hätte dort gerade noch jemand gesessen, der erst kurz zu vor aufgestanden war. Ich setzte mich und schob den Stuhl weiter an den Tisch. Das bereits offen liegende Buch schlug ich zur ersten Seite um und begann zu lesen:
Kapitel Zwei
Genesis
“Und Gott, der Herr, pflanzte einen Garten in Eden und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Er ließ allerlei Bäume aus der Erde aufwachsen; lustig anzusehen und gut zu essen. In der Mitte des Gartens pflanzte er den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Gott, der Herr, sprach zu den Menschen: “Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn der Tag, an dem du seine Frucht isst, wird der Tag deines Todes sein. ”. Unbekümmert und voller Zufriedenheit lebten die Menschen ihr Leben im Garten. Sie hatten Hunger, doch sie sorgten sich nicht, denn in Eden war stets genug zu essen. Der Tag ging, und die Dunkelheit zog über den Garten, doch sie fürchteten sich nicht, denn es gab keine Gefahr bei Nacht. Sie waren nackt, doch sie schämten sich nicht, denn niemand trug Kleidung.
Doch es gab eine Schlange, die war listiger als alle Tiere auf dem Feld und sie sprach zu den Menschen: “Gott hat euch gesagt, ihr werdet sterben, wenn ihr die verbotene Frucht isst, aber Gott lügt! Mitnichten werdet ihr sterben. Euch werden die Augen aufgehen und ihr werdet sein wie Gott! Ihr werdet wissen, was gut und was böse ist. Davor hat er Angst. Deshalb will er nicht, dass ihr die Frucht isst.”.
Die Menschen sahen den Baum an. Sie sahen die leckere Frucht und entschieden, dass es lustig sei, die Frucht zu probieren, wenn sie doch klug mache.
Da aßen sie; ihre Augen öffneten sich und sie bemerkten, dass sie nackt waren und bedeckten sich mit Feigenblättern. Die anderen Bäume und Pflanzen im Garten fingen sofort an zu welken und die Nacht setzte ein. Die Menschen begannen sich in der Dunkelheit zu fürchten und zu hungern. Als Gott, der Herr, sah, wie sich die Menschen bedeckten, wusste er, was geschehen war. Er erboste und verbannte die Menschen für immer aus dem Garten.”
Ich blätterte die dünne, schon fast durchsichtige Seite um, doch zu meinem Erstaunen war die zweite Seite leer.
Verwundert blickte ich das raue, weiß-gilbliche Papier an. Ich blätterte noch eine Seite weiter -wieder leer. Noch eine Seite und noch eine Seite und noch eine Seite. Verzweifelt nahm ich das große, schwere Buch vom Tisch in die Hand und ließ leicht aggressiv meinen Daumen durch die Seiten blättern -alles leer. Wie konnte es nur sein, dass ein so, schon fast komisch dickes Buch wie dieses, nur eine einzige Seite beschrieben hatte. Ich vergewisserte mich, dass die Seiten auch wirklich nicht einfach mit sehr dünner Tinte bedruckt waren, in dem ich einzelne Seiten gegen das Licht einer auf dem Tisch platzierten Leselampe hielt, doch sah nichts.
Ich stellte mich dabei wohl ein wenig ungeschickt an, was ich bemerkte, als ich von meiner tiefen, aber unruhigen Meditation, die mich alle Welt, außer das Buch vergessen ließ, vom Bibliothekar geweckt wurde, der mich darum bat seinen Laden bald zu verlassen, da er demnächst schließen würde.
Innerlich war ich paranoid, dass er mich eigentlich nur unter einem Vorwand aus seinem Laden beten wollte, dar ich unangenehm aufgefallen war, er eine auseinandersetzung aber vermeiden wollte, was wiederum dadurch unterstützt wurde dass ich, wie erwähnt rein gar kein Gefühl mehr für Zeit besaß und ich es in diesem Moment für unmöglich hielt, dass es bereits so spät zu sein schien.
Nach außen hin begegnete ich dem Herrn aber mit einem: “Natürlich, sofort!” und probierte dabei, so normal und gelassen zu wirken, wie ich konnte.
Dabei behielt ich jedoch ein geistiges Bild von mir im Kopf, wie ich, wie betrunken, wütend mit dem Buch herum fuchtelte, während der arme Bibliothekar ruhig, aber innerlich genervt, hinter mir stand und von mir nicht bemerkt wurde.
In einem klärenden Gespräch, welches ich einige Tage später mit allen Menschen, denen ich an jenem Tag begegnete, führte, versicherte mir der Herr, dass sich dies aber nur in meiner Vorstellung so abgespielt habe. Meine Angst bestätigte sich zwar, als mir der Kollege, den ich zuvor mit seiner Ehefrau getroffen hatte, erzählte, dass er sich sicher war, ich hätte getrunken, doch der Bibliothekar wollte scheinbar tatsächlich nur seinen Laden schließen.
Ich klappte also das Buch zusammen und stand auf. Kurz fühlte ich mich schlecht, weil ich das Buch einfach so auf dem Tisch liegen ließ und es nicht einräumte, wie hätte ich das denn aber auch tun sollen? Weder wusste ich, wie das Buch hieß, noch wer es geschrieben hatte. Dem Bibliothekar, der bereits mit seinem Schlüsselbund in der Hand klimperte und an dem ich beschämt vorbei lief, schien sich über den Verbleib des Buches aber keinen Kopf zu machen.
Mir fiel auf, dass ich den Herren, so wie allen anderen Personen, auf die ich traf, nicht in die Augen sehen konnte.
Aus diesem Grund ist mein geistiges Bild, welches ich von dem Bibliothekar habe, auch nur ein sehr schemenhaftes, karikiertes.
Mein Bild von ihm wurde mehr durch die Emotionen, die er zeigte und die ich gegenüber ihm hatte definiert.
Meine Gedanken fingen zu diesem Zeitpunkt an, immer weniger bildlich und immer abstrakter, emotionaler zu werden.
Das geistige Bild, welches ich von dem Bibliothekar hatte, entstand gerade in der Übergangsphase zu meiner jüngsten geistigen Entwicklung.
So stellte ich ihn mir als größeren, bitteren, wütenden, schon fast angsteinflößenden Menschen vor. Erst bei meinem späteren Gespräch mit ihm sah ich, dass er in Wahrheit kleinerer, liebenswerter Herr, etwa in meinem Alter, vielleicht ein wenig jünger war und er lediglich in meinem Rausch zu einem Dämon, halb abstrakt, halb real wurde.
Draußen fiel die Tür mit einem letzten klingeln des Glöckchens hinter mir zu und ich schwang mich wieder auf mein Rad, welches ich, mir damals der Unhöflichkeit und Dreistigkeit nicht bewusst, gegen das Schaufenster des Ladens angelehnt hatte.
Noch wollte, beziehungsweise konnte ich nicht nach Hause, mein Experiment war noch nicht vorbei, auch wenn ich dieses zu dem Zeitpunkt schon lange nicht mehr im Sinne hatte. Dennoch trieb mich das Gefühl, noch weiter zu erkunden.
Ich erblickte den prachtvollen Vollmond, der vor mir in die Höhe stieg, was mich an einen Ort, einer Wiese direkt am Ufer eines kleinen Sees, erinnerte, welcher zu dieser Zeit einen guten Blick auf den Mond versichern würde, erinnerte.
Entschlossen trat ich die Pedalen und steuerte auf den besagten Ort zu. Das Fahren fühlte sich wohl nicht mehr wie schweben an, doch bemerkte ich, wie die Dunkelheit langsam Teile meiner Realität verschlung. Ich stellte mir vor, wie um mich herum ein Kreis von etwa fünfundzwanzig Metern Durchmesser existierte, welcher alles, was real war, beinhaltete. Je näher man sich dem Rand dieses Kreises näherte, desto verschwommener und unwirklicher wurde alles. Außerhalb dieses Kreises war pure schwärze.
Die Steine der Straße, Laternen, ganze Häuser schienen aus dem Nichts vor mir in die Existenz geholt und hinter mir wieder vernichtet zu werden.
Dies löste in mir ein unwohles Gefühl des Alleinseins und der Einsamkeit aus. Meine Atmung wurde schwerer und meine Organe schienen sich in mir zu verknoten. Die Panik verfolgte mich, doch bevor sie mich vollends kriegen konnte, erreichte ich schon den angestrebten Ort.
Ich habe viele Erinnerungen an diese Stelle des Sees aus meiner Kindheit. Früher war nicht weit von dem Ort ein kleiner Spielplatz, zu dem mich meine Mutter als kleinen Jungen brachte. Ich war ein eigenbrödliges Kind und mochte nie mit den andern Jungen spielen. Wenn, dann spielte ich allein, oder saß mit meiner Mutter auf der Wiese neben dem Spielplatz, wo ich mich nun auch zu hingezogen fühlte, unter einem Baum auf einer Decke und lauschte von dort aus dem Geschrei und gekrächze der spielenden Kinder.
Mir machte das Alleinsein mein Leben lang nie etwas aus, lediglich meine Mutter besorgte mein Verhalten. Sie probierte mich regelmäßig anderen Kindern vorzustellen, mit denen ich spielen sollte, doch empfanden diese mich in der Regel als sonderbar und wollten nicht mit mir spielen, oder ich ignorierte sie selbst, indem ich mich einfach ohne ein Wort umdrehte und ging.
Ich beobachtete die Kinder viel lieber von meiner Decke auf der Wiese aus beim Spielen, als selber mit ihnen zu spielen.
Der Spielplatz ist nun weg. Er wich schon vor Jahrzehnten einem Stück Wald, welches mittlerweile schon große, ausgewachsene Bäume trug.
Die Wiese, direkt am Wasser, auf der ich so viel Zeit als Kind mit meiner Mutter verbracht hatte, wirkte nun so ungewohnt, so kühl. An die Sonnenstrahlen, die in meinen Erinnerungen einst wie ein Farbeimerl den ganzen Ort in die schönsten Farben des Frühlings trängte, erinnert nur das grelle, bläuliche Licht des Vollmondes, welches paradoxer Weise wirkte, als würde es Schatten scheinen.
Ich wählte diesen Ort aus zwei Gründen aus: Zum einen erhoffte ich mir, mich noch einmal in meine Kindheit versetzen zu können. Jedoch schaffte ich trotz aller Mühe und Konzentration in diesem Moment nicht, mir diese Gefühle der kindlichen Freude zu bereiten. Es wirkte so, als würde ich für jedes bisschen Farbe physisch, mit ganzem Körpereinsatz, kämpfen müssen. Ein kampf, den ich nach einiger Weile aufgab und mich der blau-graulichkeit schließlich hingab.
Erschöpft setzte ich mich und lehnte mich mit dem Rücken gegen den Baum, so dass ich in Richtung des Vollmonds blickte.
Es war nicht so, als würde das Gefühl des Unwohlseins und der Panik aufhören, doch wurden sie, jetzt, wo ich wieder saß, von einem noch größeren Biest in den Schatten gestellt.
So überkam mich schlagartig eine starke Depression und eine enorme Erschöpfung. Mit einem mal wurde der Kreis um mich noch ein Stückchen kleiner, so dass er nun nur noch den Baum, bei dem ich saß, den Vollmond und mich selbst beinhaltete.
Vor Erschöpfung und Trauer darüber, dass nun scheinbar alles in meinem Leben ausgelöscht war, oder womöglich nie existiert hatte, begann ich bitterlich zu weinen.
Nicht mal die Kraft mein, mir unangenehmes, tränen übersätes, rotes Gesicht in meinen Händen zu verstecken, hatte ich. Mir war kalt und ich zitterte still am ganzen Körper. Kurz konnte ich mich aus der dritten Perspektive, von außen, selbst beobachten, wie ich dort saß. Wie eine Puppe, alle Glieder leblos hängen lassend, saß ich da angelehnt. Lediglich mein Kopf zuckte mit jedem Schluchzer motivationslos nach vorne.
Auf einmal jedoch verspürte ich familiären Druck gegen mein Kinn, als ob jemand meinen Kopf in die Hand genommen hätte und ihn nun führen würde. Meine Perspektive schnellte abrupt wieder hinter meine Augen.
Ich gab dem Druck nach und ließ meinen Kopf mit starrem Blick in Richtung Mond führen.
Er schien auf einmal viel heller zu sein als vorher und emittierte nun einen einzelnen Lichtstrahl, der nicht mehr blaugrau und trostlos war sondern strahlend gold, so schön wie die Sonne selbst nicht hätte scheinen können.
Ich schaute nach unten, auf meine Brust und das Licht, welches den weiten Weg von der Sonne zum Mond und nun zu mir vollbracht hatte, schien direkt meine Seele zu treffen.
Es drang durch meinen physischen Körper, durch die abstrakte Ebene meiner Gedanken, direkt in einen Teil von mir, der mir ach so bekannt war, den ich aber noch nie zuvor bewusst wahrgenommen hatte.
Es berührte meine Seele, meinen Geist mein… Ich! Das, was ich mein Leben lang als “Ich” bezeichnet, aber nie als solches wahrgenommen hatte, wurde auf einmal erleuchtet und ich konnte es sehen. Der Lichtstrahl sprach mit mir, er führte mich herum in meiner Seele und er zeigte mir ganz genau, wer “Ich” bin. Er sprach mit mir jedoch nicht mit Worten. Worte, Schrift, Gestik, das sind alles nur Symbole, vereinfachte und eindimensionale Zeichen für das, was sie wirklich bedeuten.
Nein, er sprach mit mir in einer absolut reinen Sprache, die Sprache der Engel, die Sprache, die Gott spricht. Eine Sprache, die nur eine Seele mit einer anderen sprechen kann und die ansonsten durch die Filter unserer Gedanken und unseres physischen Körpers verfälscht wird.
Die Sprache der Verständnis.
Mir kam der Gedanke, dass das Licht tatsächlich Gott sei und trotz meines eigentlichen Unglaubens verschwendete ich keine Sekunde daran, dies anzuzweifeln.
Gott löste jeden Filter, jede Maske, die ich trug, ohne es je bemerkt zu haben, von mir.
Meinen alten Körper, meine Gedanken, meinen Scham, meine Reue -alles Weg. Nur noch meine Seele stand dort nackt in reinster Form, wie im Garten Eden vor Gott.
Ich hörte auf zu zittern, denn das Licht erfüllte mich mit einer unglaublichen Wärme.
All meine Angst war mir genommen.
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, zu Einhundert Prozent verstanden zu werden.
Er verstand meine innersten Gefühle, meine innersten Konflikte, selbst die, die ich selbst kaum bemerkt hatte. Er verstand meine Einsamkeit.
In diesem Moment kam mir das Buch, welches ich zuvor noch in der Bücherei gelesen hatte, in den Sinn.
Meine Umwelt, einst noch verloren im Schwarzen nichts jenseits des Kreises, begann sich wieder zu materialisieren. Jedoch war diese Umwelt nun nicht mehr “real” -Ich nutze die Anführungszeichen hier um zu verdeutlichen, dass zu diesem Zeitpunkt “real” und “abstrakt” nurnoch relativ zueinander existieren und keine tatsächliche Bedeutung mehr haben- sondern war getränkt im abstrakten Schleier des Garten Edens.
Meine Seele, die zuvor noch so nackt vor dem nicht-wertenden Anblick Gottes lag, bekam nun eine neue Hülle -Ich, also mein äußeres Ich, aber als Baby.
Mein gesamtes Leben, angefangen beim ersten Atemzug, durchlebte ich. Dabei hielt ich stets eine unglaublich lecker aussehende Frucht, von der ich periodisch abbiss. Mit jedem Mal wurde der Garten Eden um mich herum immer blasser und schien immer ferner. Mit dem Alter wurde die Frucht immer kleiner und kleiner, bis ich mich schließlich als alter Mann auf mein Fahrrad schwang und hierher fuhr.
Ich schluckte gerade die letzten Stücke in meinem Mund herunter, als ich mich unter den Baum setzte und bitterlich zu weinen begann.
Wieder erschien mir Gott als Licht des Vollmonds und begann mir sämtliche Hüllen abzureißen und wieder nahm er mir die Angst und die Scham, die ich verspürte.